Die Polyvagal-Theorie: Körper hilft Seele


In den Jahren 2020 und 2021 hielt uns die Corona-Pandemie in Atem und veränderte unser Leben. Eine Viruserkrankung, die schlimme Krankheitsverläufe mit sich brachte und zu Anfang vielen Menschen das Leben kostete. Wir erlebten Phasen intensiver Kontaktbeschränkungen, Phasen des Lockdowns, die uns viel abverlangten, sowie Zeiten von Quarantäne bei Erkrankung, um die Virus-Gefahr so gut wie möglich einzudämmen, mit der Folge, dass unser Bedürfnis nach Gemeinschaft, sozialer Zugewandtheit, gelebter Verbundenheit stark eingeschränkt war.

Corona hat Ängste, Trauer, Wut, Hilflosigkeit und starke Verunsicherung ausgelöst und unser tiefstes Bedürfnis nach Sicherheit zeitweise stark ins Wanken gebracht. Viele Menschen waren durch Corona schwierigsten Lebenssituationen ausgesetzt, die von ihnen viel Kraft abverlangten.

In diesen Zeiten der Unruhe, einen klaren Kopf zu behalten, individuelle Wege und Mittel finden, um sich unabhängig vom Außen stabilisieren zu können ist goldwert.
Und genau an diesem Punkt, erlebte ich das Wissen und den „Blick“ der Polyvagal-Theorie von Dr. Stephen Porges als äußerst hilfreich, um wieder ein bisschen mehr Selbstwirksamkeit und Handlungsfähigkeit im persönlichen Bereich zu erfahren, gerade dann, wenn das Außen – wie in Zeiten von Corona - so unkontrollierbar ist sowie in Zeiten anderweitiger Belastung.

 

 

Ein spannender Ausflug ins Land der Polyvagal-Theorie

 

Mit der Ruhe verbunden ist der Segen des Friedens."

Eckhart Tolle

 

„Die Polyvagal-Theorie hat sich in erstaunlich kurzer Zeit von einer relativ unbekannten und umstrittenen Theorie zu einem im Bereich der Psychotherapie weithin akzeptierten Verständnisansatz entwickelt“ (Deb Dana, 2021, S.19). Ihre Ursprünge gehen bis auf das Jahr 1969 zurück.

Sie basiert auf wissenschaftlich fundierten Erkenntnissen, „wie man sich ausreichend sicher fühlt, um sich in das Leben zu verlieben und sich auf dessen vielfältige Risiken einzulassen“ (Deb Dana, 2022; S.15).

Ihr Begründer Dr. Stephen Porges widmete sich der intensiven Erforschung des autonomen Nervensystems, auch ANS genannt, die für unsere Beratungsarbeit interessant sind:

Von unserem ersten Atemzug an streben wir nach Sicherheit. Unser ANS ist unser persönliches Radar, welches unablässig „lauscht“, ob einerseits im Inneren unseres Körpers alles in Ordnung ist, als auch in der Situation um uns herum sowie mit unseren menschlichen Beziehungen. Es übernimmt die grundlegende Organisation aller Vorgänge in unserem Körper, wie zum Beispiel die Atmung, die Herzfrequenz und die Verdauung, ohne dass wir darauf unsere Aufmerksamkeit richten müssen und ist zudem eng mit unsrem emotionalen Zustand verbunden, der unser Verhalten beeinflusst.

Dr. Stephen Porges hat hierfür den Begriff der Neurozeption geprägt, ein instinkthaftes Erspüren von Sicherheit, Gefahr oder Lebensgefahr. Eine Art „Erkennen ohne Gewahrsein“ (Deb Dana 2021, S. 20), das tief unterhalb des bewussten Denkens stattfindet.

Die Neurozeption ermöglicht uns somit zu unterscheiden:

  1. Ist eine Situation sicher?

  2. Ist eine Situation gefährlich und muss ich meine Kampf- und Fluchtreflexe aktivieren?

  3. Ist eine Situation so gefährlich, dass ich weder fliehen noch angreifen kann?
    Dann aktiviert sich der Totstellreflex.

Diese Unterscheidung und damit einhergehende Reaktionsweisen des ANS gelten nicht nur bei Reizen in der Umwelt, sondern auch bei inneren Vorgänge (z.B. Gedanken, Assoziationen etc.).

„Sein Ziel ist, uns zu schützen, indem es Situationen als sicher oder gefährlich identifiziert und Augenblick für Augenblick lauscht, was in unserem Körper, um ihn her und in unserem Austausch mit anderen Menschen geschieht“ (Deb Dana, 2021).

 

 

Wie ist das ANS aufgebaut?

 

Das ANS besteht aus zwei Hauptzweigen, dem sympathischen und parasympathischen Zweig und seine Reaktionsweisen stehen immer im „Dienste des Überlebens“.

Teil des parasympathischen Zweiges ist unser zehnter Gehirnnerv – der Vagus-Nerv, der längste unserer zwölf Hirnnerven. Vagus bedeutet umherschweifend, denn er verläuft vom Hirnstamm an der Schädelbasis abwärts zur Lunge, zum Herzen, zum Zwerchfell und zum Magen und wieder aufwärts zum Hals, zur Kehle, zu den Augen und zu den Ohren, mit deren Nerven er verbunden ist.

Der parasympathische Zweig verzweigt sich in zwei Reaktionspfade: in den hinteren (dorsalen) Ast und in den vorderen (vagalen) Ast.

So besteht unser ANS aus drei Reaktionspfaden, in der Reihenfolge ihrer Entwicklung, vom ältesten bis zum neuesten:

  • dem hinteren (dorsale) Vagus (leitet Immobilisierung ein)

  • dem Sympathischen Nervensystem (wirkt mobilisierend)

  • dem vorderen (ventrale) Vagus (fördert soziale Aktivitäten, wirkt entspannend und verbindend)

 

Welche Wirkung haben die drei Schaltkreise unseres autonomen Nervensystems

 

Das dorsale Vagus-System

Das dorsale Vagus-System kristallisierte sich vor etwa 500 Millionen Jahren heraus (Deb Dana, 2021; S. 32) und ist schon bei den Reptilien entwickelt.

Der dorsale Vagus-Ast reagiert auf Signale, die extreme Gefahr/überwältigendem Stress ankündigen und denen wir nicht mehr mit einer Kampf- oder Fluchtreaktion begegnen können. Sind wir im dorsalen Vagus-Nerv aktiviert unterbricht dies jedes Gefühl der Verbundenheit und des Gewahrseins. Er hemmt dann wichtige Köperfunktionen, um das Überleben zu sichern und versetzt uns in einen kollabierten Zustand – ein Zustand der Empfindungslosigkeit, um uns zu schützen. Antriebslosigkeit, Verlust von Hoffnung, Dissoziation und Aufgeben können weitere Auswirkungen einer Aktivierung des dorsalen Vagus-Astes sein.

Nach Deb Dana (2021; S.46) wird mein dorsales Vagus-System beispielsweise aktiv, wenn ich keine Möglichkeiten habe; mich in einer Situation gefangen fühle; mich fühle, als spiele ich nicht die geringste Rolle; unwichtig bin; mich fühle, als ob ich nicht dazugehörte.

 

Das sympathische System

Das sympathische System entwickelte sich vor rund 400 Millionen Jahren (Deb Dana, 2021; S.32) und ist Bestandteil aller Wirbeltiere.

Der sympathische Zweig (mittlerer Teil des Rückenmarkes) bereitet uns darauf vor zu handeln. Er wird bei Gefahrensignalen aktiviert und initiiert die Ausschüttung von Adrenalin. Energie für die Kampf- oder Flucht-Reaktion wird bereitgestellt, um unser Überleben zu sichern. Angst und Wut sind vorherrschende Gefühle.

Mein sympathisches System tritt z.B. in Aktion, wenn ich ignoriert werde; verwirrt bin; gedrängt werde, mich zu entscheiden oder für etwas Partei zu ergreifen; in meinem Umfeld ein Konflikt besteht, mich für zu viele Menschen verantwortlich fühle

(Deb Dana, 2021; S.46).

 

Das ventrale Vagus-System

Das ventrale Vagus-System entwickelte sich vor rund 200 Millionen Jahren (Deb Dana, 2021; S. 32) und ist nur bei den Säugetieren ausgeprägt.

Der ventrale Vagus-Ast reagiert auf Signale der Sicherheit und löst Gefühle aus, die wir mit Entspannung, Erholung und sozialer Verbundenheit assoziieren. Wir fühlen uns geborgen, sicher und können uns mit anderen Menschen verbinden und kommunizieren. Den Herausforderungen des Alltags fühlen wir uns gewachsen. In Zeiten von Sicherheit ermöglicht es uns einen Überlebensvorteil durch soziales Miteinander.

Mein ventrales Vagus-System wird aktiviert, wenn ich beispielsweise an Menschen denke, die mir wichtig sind; ich in der Natur bin; mir zugestehe eigene Entscheidungen zu treffen; Musik höre; die Ruhe in Gesellschaft meines Hundes genieße; unter den Sternen stehe; die Füße im Meer baumeln lasse; mit einer Freundin/einem Freund eine Tasse trinke; mit meinem Kind Lego spiele…

(Deb Dana 2021; S.39-46).

 

 

Die „autonome Leiter“ der Polyvagal-Theorie

 

Seit du in diese Welt gekommen bist, steht eine Leiter vor dir,

auf daß du sie überwindest.“

Rumi

 

Wenn wir von Nöten, Ängsten und Sorgen geplagt sind, die sich auf unser Wohlbefinden und unsere Lebensfreude auswirken, wenn wir uns äußeren Lebensumständen ausgeliefert fühlen und nach Wegen suchen, wieder Handlungsfähigkeit und Selbstwirksamkeit zu erleben, hilft das Grundwissen der Polyvagal-Theorie, den die Funktionsweise des ANS lässt sich anschaulich in ein Modell übersetzen: wir können uns die Anordnung der drei Reaktionspfade (dorsal, sympathisch, ventral) als eine „autonome Leiter“

(Deb Dana, 2021; S. S.25-28) vorstellen.

Auf dieser Leiter können wir uns aufwärts und abwärts bewegen. Je nachdem auf welcher Sprosse wir uns befinden, verändert dies unser Erleben und unsere Wahrnehmung und letztendlich auch unsere Verhaltensweisen:

 

Auf den obersten Sprossen der Leiter (Ventral-Vagal)

Es ist Sommer, wir sitzen in einem Café, die Sonne scheint und wir trinken gemütlich einen Cappucchino mit einer Freundin/einem Freund. Wir lachen, erzählen miteinander und genießen die Wärme der Sonne. Ich fühle mich entspannt, heiter, friedlich und unbeschwert.

In diesem Moment ist mein ventraler Vagus aktiviert und damit entsteht ein Gefühl von Sicherheit und Verbundenheit. Ich bin mit meinem Erleben verbunden und in der Lage mit anderen Menschen in Kontakt treten. Im Alltag ist es mir möglich, organsiert zu sein, Pläne umzusetzen, für mich selbst zu sorgen und spielerische Augenblicke zu initiieren. Ich bin neugierig und zuversichtlich. Bei der Arbeit fühle ich mich produktiv. Ich erlebe mich geerdet, in meiner Mitte. Auch körperlich geht es mir gut: mein Herz schlägt regelmäßig, ich kann tief ein- und ausatmen und mein Blutdruck befindet sich im Normalbereich.

 

Abstieg auf der Sprossenleiter (Sympathische Nervensystem)

Plötzlich erscheinen dunkle Wolken am Himmel, die Luft wird ganz heiß und schwül, es scheint sich etwas am Himmel zusammenzubrauen. Ich bekomme Angst vor einem herannahenden Gewitter. Gewitter sind für mich mit einschneidenden, furchteinflößenden Kindheitserinnerungen verbunden. Mir ist ganz unbehaglich, ich lausche angestrengt, ob ich ein Donnergrollen wahrnehmen kann und kann dem Gespräch nicht mehr richtig folgen. Ein Aufwallen von Adrenalin ist spürbar. Auf einmal wird das Café zu einem gefährlichen Ort und ich muss mich schützen. Ich prüfe, ob im Inneren des Cafés noch Plätze frei sind…

In diesem Zustand spüren wir einen Anflug von Angst, Unbehagen oder auch Wut und wittern Gefahr. Wir werden aktiv, um uns aus diesem Zustand zu befreien – entweder durch Flucht- oder Kampfreaktionen. Die Welt wird in diesem Moment als gefährlich, chaotisch, unfreundlich empfunden. Wir haben Schwierigkeiten, uns zu konzentrieren oder etwas zu Ende zu bringen.

Gesundheitliche Auswirkungen können sein: Bluthochdruck, Schlafstörungen, eine Herzerkrankung, hoher Cholesterinspiegel, Kopfschmerzen, Konzentrationsstörungen, Magenprobleme, Verspannungen im Hals-, Schulter-, Nackenbereich etc.

 

Die untersten Sprossen der Leiter (dorsal-vagal)

Das erste Donnergrollen ist zu hören, auf einmal kracht es fürchterlich und Blitze durchzucken den Himmel, es regnet plötzlich in Strömen. Ich bekomme eine Panikattacke und ein Gefühl übermäßiger Verzweiflung überfällt mich. Mein Herz beginnt zu rasen, ich bekomme Atemnot, ich beginne zu zittern, mir wird schwindelig. Ich habe das Gefühl, völlig die Kontrolle zu verlieren – nichts geht mehr.

 

In diesem Lebenszustand ist der dorsale Vagus-Nerv aktiviert. Wenn alles andere scheitert, wenn wir das Gefühl haben in der Falle zu sitzen, versetzt uns der dorsale Vagus in den Shutdown, eine Art „Notabschaltung“, die bis zur Dissoziation gehen kann. Dies ist die unterste Sprosse der autonomen Leiter, wo ich mit meiner Verzweiflung alleine bin und ich mich in ein Nicht-Wissen, Nicht-Fühlen und fast sogar in eine Empfindung des Nicht-Seins flüchte. Dieser Lebenszustand kann Depressionen, Gedächtnisstörungen, Dissoziation, Isolation und Mangel an Energie für die alltäglichen Pflichten verursachen. Gesundheitlich kann beispielsweise chronische Erschöpfung, Fibromyalgie, Magenprobleme, Diabetes Typ2 auftreten.

 

 

Ein kleiner Einblick in die Beratung mit Blick auf den Vagus-Nerv

 

Auch ich tanze den Rhythmus dieser Welt in Bewegung.“

Rumi

 

Die Metapher der „autonomen Leiter des Nervensystems“ ermöglicht, das emotionale Erleben physisch anschaulich zu verorten. Wenn wir beispielsweise sehr unruhig sind, uns innerlich gehetzt fühlen, von negativen Gedankenspiralen geplagt sind ist anzunehmen, dass unser autonomes Nervensystem sich im sympathischen oder dorsalen Vagussystem befindet.
In der Beratung mache ich gute Erfahrungen damit,  über das Modell der Polyvagal-Theorie aufzuklären (Psychoedukation) und zu zeigen, dass wir Möglichkeiten haben, positiv auf unser Nervensystem einzuwirken. Wir aktivieren somit unsere Eigenverantwortung und Handlungskontrolle, erleben Selbstwirksamkeit und können uns für das „Hier und Jetzt“ das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit schenken, selbst wenn im „Außen“ manchmal vieles unkontrollierbar erscheint oder auch ist.

Vielfältige therapeutische Interventionsmöglichkeiten können hier eingesetzt werden, wie z.B. Achtsamkeitsübungen, Atemübungen, Körperübungen, Imaginationen, die der Selbstberuhigung dienen und dem Klienten ermöglichen, in den ventralen Vagus-Zustand zu wechseln – auf der „autonomen Leiter“ sozusagen die Sprossen hinaufzuklettern oder auch hinabzusteigen, wenn wir aus einem entspannten Lebenszustand zu einem aktivierten Zustand wechseln wollen, je nachdem was für uns in der jeweiligen Situation lebensdienlich ist.

Befindet sich der Klient/die Klientin (übrigens auch der Berater(die Beraterin) in einem vom ventralen Vagus geprägten Zustand, erfüllt eine Atmosphäre der Verbundenheit den Raum. Die Sitzung hat dann einen Rhythmus und das Gefühl von Geerdetheit ist spürbar, auch wenn die Lebenssituation des Klienten schwierig ist. Die Energie des ventralen Vagus weckt Neugierde und die Bereitschaft zu experimentieren. Neue Perspektiven und Handlungsoptionen können in den Blick genommen werden. Hoffnung und Zuversicht halten Einzug und Veränderungen können leichter angestoßen werden

Der ventrale-Vagus wird auch „mitfühlender Nerv“ genannt und begünstigt durch seine Aktivitäten fürsorgliches und mitfühlendes Verhalten. Unser Blick wird sanfter, die Stimme nimmt einen freundlichen Klang an, wir werden animiert Kontakt aufzunehmen, die Herzfrequenz sinkt.

Zusätzlich unterstützt die vom ventralen Vagus ausgehende Energie auch das Selbst-Mitgefühl: eine Wendung nach innen, die dazu führt, dass wir gütiger mit uns selbst und unserem Leiden umgehen. Mitgefühl stärkende Übungen verringern den Stress und stärken die Immunabwehr (Keltner 2012).

„Bei den Azteken gab es das wundervolle Wort apapacho, „die Seele umarmen oder liebkosen“.

Der vom ventralen Vagus bestimmte Zustand der Sicherheit und Verbundenheit erschließt die Möglichkeit, apapacho anzubieten und zu empfangen“ (Deb Dana, 2021; S. 40).

In diesem Zustand steht uns ein ganzes Spektrum von Reaktionen offen, darunter ruhige, glückliche, meditative, aufgeschlossene, aufmerksame, aktive, interessierte, begeisterte, leidenschaftliche, aktionsbereite, entspannte, genießerische und freudige

(Deb Dana, 2021; S.39).

 

 

Mini-Köperinterventionen zur Aktivierung des vorderen Vagus

 

Du fragst, welchen Fortschritt ich gemacht habe?

Ich habe angefangen, mir selbst ein Freund zu sein.“

Hector

 

Die Grundübung – die Augenübung

Die folgende Grundübung, beschrieben nach Stanley Rosenberg (2020; S. 259-262) hilft das eigene Nervensystem zu regulieren, sich zu beruhigen, um sich zu unterstützen in einen Zustand der sozialen Zugewandtheit und Kommunikation zu finden.

Diese kann im Liegen, Stehen oder Sitzen durchgeführt werden. Ich werde sie in der Sitzposition beschreiben, als eine angenehme Version im Beratungsprozess.

  • Nehmen Sie eine bequeme Sitzposition ein, Füße fest auf den Boden

  • Verschränken Sie die Finger vor dem Körper

  • Legen Sie die verschränkten Hände hinter den Kopf, wobei das Gewicht des Kopfes bequem auf den verschränkten Händen liegt.

  • Blicken Sie nun soweit wie möglich nach rechts, ohne den Kopf zu bewegen. Nur die Augen bewegen und den Blick nach rechts gerichtet halten. Nach kurzer Zeit - ca. nach 30 oder 60 Sekunden – werden Sie einen Impuls verspüren, entweder zum Schlucken, Gähnen oder Seufzen. Das ist ein Zeichen dafür, dass sich das autonome Nervensystem entspannt. Achten Sie auf Empfindungen in Ihrem Körper.

  • Führen Sie die Augen wieder zur Mitte und schauen Sie geradeaus.

  • Lassen Sie die Hände an Ort und Stelle und halten Sie den Kopf still. Bewegen Sie diesmal die Augen nach links.

  • Halten Sie den Blick nach links, bis Sie wieder Schlucken, Gähnen oder Seufzen müssen. Welche Körperempfindungen stellen sich jetzt ein?

  • Damit ist die Körperübung beendet. Wie ist es Ihnen ergangen? Hat sich Ihre Atmung verändert? Hat sich die Beweglichkeit des Kopfes verbessert? Eine größere Beweglichkeit führt oft zu einer besseren Blutzufuhr zum Hirnstamm und es kommt zu einer Funktionsverbesserung des vorderen Vagus-Astes. Diese kann unterstützt werden, wenn Sie vor der Übung und nach der Übung Ihren Kopf so weit wie möglich nach rechts bzw. nach links drehen, soweit es Ihnen bequem möglich ist.

 

Eine Atemübung

Nehmen Sie eine bequeme Sitzhaltung ein, Füße fest auf dem Boden.

  • Atmen Sie ruhig durch Nase und Mund ein und aus.

  • Das Verhältnis Ein- und Ausatmung ist etwa 4:6. Entscheidend ist, dass die Phase der Ausatmung länger ist als die Einatmung.

  • Atmen Sie in den Brustkorb, sodass er sich beim Einatmen spürbar weitet. Dabei die Schultern unten lassen. Da der vordere Vagus oberhalb des Zwerchfells verläuft, ist die Brustatmung zu empfehlen.

  • Nach jedem Einatmen stoppen Sie kurz. Sie können z.B. zählen: Einatmen: 1-2-3-4 - Stopp – Ausatmen 1-2-3-4-5-6. Die Augen offen oder geschlossen halten.

  • Sie können die Atemübung 20 Minuten lang machen oder einfach 5 bewusste Atemzyklen, beispielsweise beim Spazierengehen oder mal Zwischendurch. Machen Sie die Übung mehrmals täglich.

  • Beenden Sie sie bewusst. Nicht dauerhaft in diesem Atemmuster atmen.

  • Gerade in Situationen, in denen wir uns unsicher und unruhig fühlen ist sie eine wunderbare Körperintervention, um mehr zur Ruhe und wieder einen klareren Kopf zu bekommen (Balkenhol & Hupe, 2020; S. 13).

 

Heilsame Berührungen

Der Körper reagiert auf Selbstberührung mit Beruhigung. Dies machen bereits Babys im Mutterleib. Halten Sie sich selbst, beispielsweise in einer Umarmung, legen Sie Ihre Hand auf Ihr Herz oder den Bauch. Streicheln Sie sich selbst die Wange oder klopfen Sie sich selbst auf die Schultern oder die Arme. Nehmen Sie über die Füße bewusst Kontakt zum Boden auf, im Sommer mit nackten Füßen über die Wiese laufen.

Probieren Sie selbst aus, was für Sie am besten sind. Bleiben Sie in den Haltungen für 1-2 Minuten und warten Sie ab, wie sich Ihre Atmung, Ihr Puls oder Ihre Muskel- und Bauchspannung verändert. Welche Gefühle löst die jeweilige Körperhaltung aus? Was gut tut, darf wiederholt oder länger angewandt werden (Balkenhol & Hupe, 2020; S. 14).

 

Wärme des Herzens

Ist das System für soziale Verbundenheit aktiv, spürt das Gegenüber, Ihre soziale und physische Wärme. Warmherzig wahrgenommene Menschen übermitteln autonome Signale für Sicherheit, die zur Annäherung und Verbindungsaufnahme einladen. Physische Wärme fördert die zwischenmenschliche Wärme (Williams & Bargh 2008). Wenn soziale Wärme fehlt, versuchen wir unbewusst, uns mit Hilfe von physischer Wärme selbst zu regulieren.

Das Halten einer warmen Tasse Tee verstärkt die physische Wärmeempfindung, die sich dann ihrerseits positiv auf das psychische Wärmeerleben auswirkt. Eine heiße Dusche oder ein heißes Bad kann somit Gefühle sozialer Isolation verringern sowie sich Einzukuscheln in eine warme Decke.

„Wärme des Herzens ist sowohl ein körperliches als auch psychisches Erleben“ (Deb Dana, 2021; S. 167-168).

 

 

Der Erste-Hilfe-Koffer in Zeiten von Corona

 

Im „Erste-Hilfe-Koffer“, verortet in meiner Bibliothek, habe ich verschiedenste Möglichkeiten aufgeführt, um unser autonomes Nervensystem zu beruhigen sowie Verbundenheit mit uns selbst und unseren Mitmenschen zu stärken. Gerade in Zeiten von Corona, wenn wir mit verstärkter Isolation, Ängsten und Sorgen belastet sind, stimmt es zuversichtlich sich selber und seinen Mitmenschen etwas Gutes zu tun. Ich gebe Tipps, die hilfreich sind, um den vorderen Vagus-Ast zu stimulieren, um für sich selbst Entspannung und Ruhe zu fördern, als auch gut im Kontakt mit seinen Mitmenschen zu bleiben.

 

 Hier ein kleiner Auszug:

  • Gönnen Sie sich persönliche Freiräume und Rückzugsmöglichkeiten: Wenn möglich, achten Sie darauf, auch einmal 20 min. für sich selbst zu haben. Kleine Atempausen zwischendurch tun gut und stärken!

  • Planen und strukturieren Sie Ihren Alltag: z.B. arbeiten Sie im Garten, um frische Luft zu schnappen… sorgen für wohltuende Ablenkung.

  • Gönnen Sie sich was Schönes: Sei es ein gemütliches Schaumbad oder ihr Lieblingsessen….

  • Entwickeln Sie gemeinsame Rituale mit Ihrem/Ihrer Partner*in und Ihren Kindern. Sie schenken Struktur und lassen das „Wir“ spüren. Nehmen Sie sich als Paar beispielsweise bewusst Zeit für das miteinander Erzählen bei einer Tasse Tee…

 

Enden möchte ich mit den zuversichtlichen Zeilen von Margarete Fuller:

 

Harmonie ist in der Unterschiedlichkeit ebenso wie in der Ähnlichkeit möglich.“

Margaret Fuller

 

 

Literatur: 

Balkenhol & Hupe (2020). http://www.praxis-hupe.de/Downloads/polyvagaltheorie_und_corona.pdf

Deb Dana (2022). Der Vagus-Nerv als innerer Anker. Kösel.

Deb Dana (2021). Die Polyvagal-Theorie in der Therapie. G.P. Probst Verlag.

Keltner, D. (31.7.2012). The compassionate species. http://greatergood.berkeley.edu/article/item/the compassionate_species.

Rosenberg, Stanley (2020). Der Selbstheilungsnerv. So bringt der Vagus-Nerv Psyche und Körper ins Gleichgewicht. VAK Verlags GmbH.

Williams, L.E., & Bargh, J.A. (2008).Experiencing physical warmth promotes interpersonal warmth. Science, 322 (5901), 606-607. http://doi.org/10.1126/science.1162548

 

© Dipl. -Psych. Astrid Schrankl