Das Phänomen der stellvertretenden Wahrnehmung


In der systemischen Aufstellungsarbeit ermöglicht das Phänomen der stellvertretenden Wahrnehmung, unbewusste innerseelische Konflikte und menschliche Verstrickungen in Systemen (wie beispielsweise innerhalb der Familie oder in Organisationen) ans Tageslicht zu bringen.

Dies geschieht, weil Menschen die Fähigkeit haben Gefühle, Gedanken, körperliche Wahrnehmungen und Handlungsimpulse von Familienmitgliedern – auch generationsübergreifend – sowie von fremden Menschen wahrzunehmen. Diese Fähigkeit ist altes Menschheitswissen über das wir von Natur aus verfügen und mit welcher wir auf unterschiedlichste Art und Weise in Berührung kommen.

 

Die stellvertretende Wahrnehmung begegnet uns im Alltag, wenn wir beispielsweise mitempfinden, wie die Frau in einem berührenden Spielfilm, um ihren verstorbenen Geliebten weint und wir uns im „emotionalen Mitschwingen“ selber ein paar Tränen aus dem Gesicht streichen. Unser Mitgefühl ist auf Erkenntnisse der Neurowissenschaften zurückzuführen, die zeigen, dass wir uns mit Hilfe der Spiegelneuronen in die Gemütslage von anderen Menschen hineinversetzen können.

 

Ferner gibt es eine Vielzahl epigenetischer Forschungsarbeiten, die nahelegen, dass „traumatische Erfahrungen vorheriger Generationen über die Regulationssysteme der Gene weitergegeben und von den nachfolgenden wahrgenommen werden". (Homberger, Harald 2019)

Beispielsweise können wir die Traurigkeit der Großmutter, ausgelöst durch das unerträgliche Leid in den Kriegswirren, in uns spüren und diese „tragen“, auch wenn wir sie nicht mehr persönlich kennengelernt haben.

Die Übernahme generationsübergreifender Gefühle, Gedanken, Handlungsimpulse und die damit einhergehenden innerfamiliären Verstrickungen, in denen sich Ratsuchende folglich befinden, verursachen häufig schweres persönliches Leid. Es ist eine tiefe Erfahrung und Befreiung, wenn im weiteren Aufstellungsprozess, mit Hilfe eines erweiterten Bewusstseinsprozesses, dieses übernommene Gefühl „losgelassen“ wird. Damit einhergehend, vergrößert sich der persönlich empfundene Raum an innerer Freiheit, dessen positive Wirkung erfahrungsgemäß bis ins tägliche Leben hinein strahlt.

 

Es ist immer wieder eindrücklich, wenn das alte Erfahrungswissen der Aufstellungsarbeit zeigt, dass die stellvertretende Wahrnehmung nicht nur auf die eigene Familie beschränkt bleibt, sondern auch stellvertretend Menschen aus anderen Familiensystemen gespürt werden können. Wir können sozusagen für eine andere Person, oder eine geistige Struktur (z.B. die Liebe), für Körperorgane (z.B. das Herz) aber auch für Objekte, wie beispielsweise ein Haus oder einen Ort (z.B. das Herkunftsland) stellvertretend stehen.

Die jeweilig innewohnende Information, die in einem gesammelten Bewusstseinszustand des jeweiligen Stellvertreters auftaucht dient dem Aufstellungsprozess, um neue Erkenntnisse zu gewinnen und bestenfalls die Auflösung leidvoller Verstrickungen, für den Ratsuchenden zu ermöglichen.

 

Für das Aufstellungsgeschehen und die stellvertretenden Wahrnehmungen, die sich im Feld befinden, ist das Bewusstsein und die innere Haltung des /der Aufstellungs*leiterin wesentlich.

 

Homberger (2019) drückt das in seinen Worten trefflich aus: „Die Grundlage von gelingender Wahrnehmung in einer Aufstellung ist Achtsamkeit oder achtsames Gewahrsein - dies gilt für den/die Aufstellungsleiter*in als auch für die Stellvertreter. Achtsames Gewahrsein bedeutet, das Erfahren von Augenblick zu Augenblick und das Wahrnehmen von im Bewusstsein auftauchenden Empfindungen, Sinneswahrnehmungen, Gedanken, Gefühlen und Handlungsimpulsen, ohne diese zu bewerten...verweilend in der Wahrnehmung reiner Gegenwärtigkeit, öffnet er für alle spürbar einen Bewusstseinsraum, in dem sich das Bewusstsein derer, die ein Anliegen zur Aufstellung gebracht haben, spiegeln kann". 

 

Literatur:

Homberger, Harald (2019). In: Essenzen der Aufstellungsarbeit. Die stellvertretende Wahrnehmung in der systemischen Aufstellungsarbeit. Seite 88. Vandenhoeck & Ruprecht

  

© Dipl. -Psych. Astrid Schrankl